EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Verfahren 413338/23

Individualbeschwerde gegen die Schweiz in Sachen BGE 9C_650/2022

Thematik: Steuerstrafrecht, ASU/ESTV (Abteilung Strafsachen und Untersuchung)

Parteien:                juristische Person (AG) vs. Eidgenossenschaft
Vertreter:               Marcel Wieser, lic.phil. I / Treuhänder FA
                               WIPA Treuhand AG, St. Gallen

Nachdem der EGMR bisher, soweit erkennbar, noch nie auf eine Individualbeschwerde in Steuerstrafrechtsfragen mit der Thematik ASU/ESTV eingetreten ist, führt der Gerichtshof seit Dezember 2023 erstmals ein Verfahren gegen die Schweiz.

In der Sache selbst ist das Urteil noch offen.

Wird der Beschwerde aber ganz oder teilweise entsprochen, so wird die schweizerische Steuerstrafgesetzgebung neu kodifiziert werden müssen. Das heute gültige Steuerstrafrecht wird nicht mehr rechtsgültig anwendbar sein.

  • Insbesondere wird es endlich nicht mehr angehen, dass ein Exekutivorgan wie ein Bundesrat nach Art. 190 Abs. 1 DBG in grober Missachtung der Gewaltenteilung eigenmächtig ein Strafverfahren einleiten kann;
  • Vor allem aber werden die offenkundig nicht unabhängigen ASU/ESTV und KSTA keine Strafuntersuchungen, bzw. Verfahren mit Schuldvermutung zum Nachteil der betroffenen Person und/oder Gesellschaft mehr führen können;
  • Ebenfalls wird es nicht mehr angehen, die regelmässig drakonischen Steuerstrafen nach dem Erfolgsstrafrecht zu verhängen, und dem Schuldstrafrecht wird endlich zum Durchbruch verholfen;
  • Die Steuerstrafrechtsbehörde muss funktional und organisatorisch von jeder andern Steuerverwaltungseinheit getrennt werden. Nur so kann ein rechtstaatlich korrektes Verfahren nach den fair trial – Regeln garantiert werden.

Das ist im Ergebnis hochgradig erfreulich und ein Meilenstein im epischen Kampf um Gerechtigkeit und rechtstaatlich korrekt geführte Steuerstrafverfahren.

Verfahren 41338/23 Thema der EGMR-Beschwerde im Speziellen

Streitsache ist ein Steuerstrafverfahren, deren Grundlage ein sogenannter ASU-Bericht nach Art. 193 DBG ist.

Unserer Klientin wurde der rechtliche Gehörsanspruch in krasser Weise durch das KSTA SG, die Verwaltungsrekurskommission St. Gallen und das Verwaltungsgericht Kanton St. Gallen verletzt. Das Bundesgericht hat sich mit den völkerrechtlichen Rügen in BGE 9C_650/2022 wegen angeblich fehlender Substantiierung (Art. 106 Abs. 2 BGG) gar nicht erst auseinandergesetzt, sondern hat die Beschwerde in Dreierbesetzung abgewiesen.

Gründe  der Individualbeschwerde an EGMR:

  • Verletzung der Untersuchungsmaxime: Unsere Klientschaft wurde nie zur Sache einvernommen, weder von der ASU noch von einer anderen Behörde oder Gericht;
  • Der fragliche ASU-Bericht betrifft nicht unsere Klientschaft; sie war auch nicht Adressatin des Berichts;
  • Verletzung der Unabhängigkeit: weder die ASU noch das KSTA SG ist in Steuerstrafverfahren unabhängig im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK;
  • Verweigerung des letzten Wortes der Beschuldigten Person (Art. 347 StPO): die VRK SG hat das letzte Wort nicht angeboten, sondern schlicht ignoriert;
  • Erfolgsstrafrecht anstelle von Schuldstrafrecht / Verletzung nulla poena sine lege: die beschuldigte Person wurde nicht schuldangemessen sanktioniert, sondern die Strafsanktion richtete sich allein nach dem Erfolg der Steuerhinterziehung (Erfolgsstrafrecht)

Anmerkung:

Es zeigt sich einmal mehr, dass es in Steuerrechtsverfahren nicht nur viel Geduld, sondern auch eine hohe Frustrationstoleranz braucht. Die Kant. Steuerämter, die kant. Gerichte (Verwaltungsrekurskommission, Verwaltungsgericht) und das Bundesgericht mögen sich vielfach nicht mit Rügen zu Steuerrechtsfällen auseinandersetzen. Nicht anders lässt es sich erklären, dass im Durchschnitt vier von fünf Beschwerden kostenpflichtig mit kurzer Begründung abgewiesen werden.

Gegen diese Art der formellen Rechtsverweigerung setzen wir uns konsequent, kompromisslos und mit Nachdruck für die Interessen unserer Klientschaft ein.

Behörden und Gericht müssen beachten: Fair trial und die EMRK-Schutzrechen gehören respektiert.